Freies Drehen

geschrieben von admin am 24. April 2008
Kategorie: Aktuelles


Die Erde dreht sich. Immer noch. In den letzten Wochen für uns etwas schneller als uns lieb war. Deshalb heute und hier die neuesten Fakten und faktischen Gerüchte. Wenn man die Situation ganz emotionslos und stoisch betrachtet, dann ist sie immer noch unklar. Zwar ober- und manchmal sogar überirdisch ruhig. Dafür mit unterirdischen Eruptionen, regionalen Steinwürfen, unzufriedenem Geflüster, wildem Klatsch und keiner Ahnung.
Grundsätzlich sind wir ganz froh für über den – wenn auch brüchigen – Frieden im Lande. Hoffen nur, dass Ihr nicht müde werdet, wenn wir allmonatlich ?Feurio, Feurio!? wehklagen und es nachher doch nur eine Taschenlampe war. Der Lichtstreif am Horizont flackert zumindest. Und wer weiß, vielleicht explodiert er eines Tages doch noch in eine waschechte Revolution. Obwohl wir eher der Meinung eines ausländischen Freundes sind,
der neulich frustriert feststellte: ?Selbst einen Staatsstreich bekommen sie nicht auf die Reihe?? Recht hat er!
Wir nutzen die Zeit, die wir haben. Und manchmal nutzt die Zeit uns – ab.
Und damit zurück zu den Errungenschaften der letzten Wochen:

Zuerst einmal traf uns ein Blitz aus heiterem Himmel. Leider ganz wortwörtlich. Mittlerweile zum dritten Mal schlug ein Blitz in die Solaranlage unseres Studiencenters ein. Blitzableiter, Erdung und Überspannungsschutz verhinderten den totalen Zusammenbruch. Sämtliche Computer blieben intakt. Doch der Spannungswandler, der die 12 Volt Gleichstrom in 230 Volt Wechselstrom wandelt, pfiff nur noch auf dem letzten Loch. Anfangs schien es zwar so, als wäre er ohne Schaden aus der Erfahrung hervorgegangen, doch bei näherem Hinsehen wollte er nur noch Kleinstgeräte betreiben und riss bei größeren energetischen Herausforderungen die imaginären Hufe hoch. Wir haben Hoffnung, dass der Schaden reparabel ist,
und betreiben das Center im Augenblick mit unserem privaten Spannungswandler, den wir täglich zu Hause ab- und im Center anmontieren.

Tata! (Das war eine Fanare und ? zufälligerweise ? auch der Name einer unserer Computerstudentinnen). Also noch einmal: Tata! Unser Videoclip ?Changement? (Veränderung) ist Anfang vergangener Woche fertig geworden.
Nun war es klar, dass man das 14minütige Musik-Rap-Tanz-Theater-Konglomerat nicht einfach mal nebenbei vorspielen könnte. Unsere Studenten jedenfalls hatten ganz andere Vorstellungen: Sie wollten jeden einladen, der in Télimélé Rang und Namen hatte. Vom Präfekten über den Krankenhausdirektor bis hin zum Friedensrichter (?Es geht doch im Lied auch um ?injustice? – Ungerechtigkeit? ? wie einer unserer Studenten wahrheitsgemäß feststellte).
Also tippten wir gemeinsam eine feine Einladung (mit Bitte um pünktliches Erscheinen), druckten sie fünfzig Mal aus und verteilten. Anschließend bereiteten wir die ?Avant-Premiere? detailliert vor.
Mit vorherigem Subbotnik (also einer wenn man?s wörtlich nimmt samstäglichen in Realität allerdings freitäglichen Grundreinigung von Grundstück und Gebäude mit unglaublichen 30 Freiwilligen). Mit fünfzig Mietstühlen zusätzlich zu unseren eigenen 40 Sitzwacklern, Hektolitern von Saft und Tonnen von Keksen. Mit kleinem Studenten-Intro-Programm, einer eloquantensprunghaften Rede und fünfzig VideoCDs mit unseren Studentenfilmen.
Der Samstag kam. Und über hundert Gäste. Das gesamte offizielle Funktionärsprogramm. Der Präfekt mit zwei AK47-tragenden Leibwächtern (welche die gesamte Besucherschaft zu stehenden Ehrenbezeugungen veranlassten), seinem ?Secrétaire Général de la Irgendwas? und seinem ?Secrétaire Général de la Irgendwas anderes?, dem Direktor der Präfektur für Schulen und jenem für Krankenhäuser. Die gesamte Entourage eben.
Und das war auch das Problem. Normalerweise muss man jeden Ehrengast mit all seinen mühsam gekauften Titeln begrüßen. Während also die gesamte Bürgerschaft ihre ersten Plätze einnahm, war ich mit Hilfe eines Ortskundigen dabei, sämtliche Ränge möglichst in der richtigen Reihenfolge auf meine Rede zu kritzeln. Weil wir aber keine Lust hatten, etwa 20 Minute Namen zu repetieren, fassten wir zusammen: ?Monsieur le Préfet und sein staff.? wobei das aus dem Englischen stammende, ein-ge-guineischte Wort ?staff? allein für sechs Mitarbeiter mit ellenlangen Titeln gut war.
Und die Veranstaltung war ein echter Erfolg. Der Präfekt ließ es sich nicht nehmen, aus dem Stehgreif eine eigene Rede zu reden, in der er darüber sprach, wie unser Center die Kinder der Stadt aus den Krallen des Schaitans reißen würde. Fromme Wünsche, denen wir uns nur anschließen können. Auch wenn das Alltagsgeschäft sich oft weit weniger blumig beschreiben lässt.
Die Gratis-CDs wurden verteilt und ließen ein anderes Phänomen offenbar werden: Während im Allgemeinen die ganze Stadt eine große Familie ist und nur aus Brüdern und Schwestern besteht (selbst der angeheiratete Cousin der zweiten Frau des Großonkels mütterlicherseits geht noch locker als ?Bruder? durch), hatten plötzlich selbst Väter und Söhne nichts mehr miteinander zu tun. Weil wir nämlich erklärt hatten, dass es nur eine Frei-CD pro Familie gäbe. Aber natürlich jeder seine eigene haben wollte. Mittlerweile brenne ich schon zum zweiten Mal nach? Zwischenzeitlich bekamen wir noch fünfköpfigen Besuch aus der Hauptstadt.
Und weil das nicht genug war, gab es am vergangenen Mittwoch auf dem Grundstück des Centers noch eine Namensgebungszeremonie für ein Baby. Der neugeborene Sohn unseres Vermieters. Der zu diesem Anlass gut 400 Besucher bekam. Und deshalb das Center der Einfachheit halber mitokkupierte. Wir waren am Morgen bei den Feierlichkeiten dabei (das Kind heißt Thierno Abdoul Karim Bah und kann nichts dafür.) Wir kamen ziemlich müde, mit glasigen Augen gegen Mittag wieder zu Hause an und schlossen Wetten ab, wie unser Center wohl am Nachmittag aussehen würde. Insbesondere unser hübscher ? nach der Videopräsentation nochmals grundgereinigter Saal – in welchem am Morgen der gesamte Reis samt Soße gelagert worden war und der als eine Art Speisesaal für die Honoratioren Verwendung gefunden hatte. Romy und ich dachten beide, dass es schmuddelig aussehen würde. Beschlossen aber, keine Vorurteile zu haben und positiv an die Sache heranzugehen. Stellten am Nachmittag im Center fest, dass es schmuddelig aussah. Der Saal wirkte wie die Kreuzung eines Elefantenfriedhofs mit einer Mülldeponie und einem Voodootempel. Der Boden war mit Knochen und Essenresten bedeckt. Und es roch streng. Der Grund des Geruchs war bald gefunden: in einer offenen Schüssel lag der Kopf des Opferziegenbocks im eigenen Blute und schaute uns aus offenen Augen vorwurfsvoll an. Um ihn herum lagen ein paar besonders leckere Innereien auf einem Tablett und summten. Genau genommen summten die Fliegenschwärme auf Leber, Herz und Milz.
Und so freuen wir uns schon auf die dritte Grundreinigung innerhalb von fünf Tagen. Und auf die vor uns liegenden, hoffentlich echt langweiligen Tage.

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